Selbstwertgefühl
Leistungssportler bereiten sich mental auf den Wettkampf vor. Sie machen sich ihre Stärken bewusst. Das funktioniert auch beim Selbstwert. In ihrem Buch ‚Es geht ja doch‘ beschreibt Cordula Nussbaum das anhand eines 100-Frankenscheines:
„Während meines Studiums trat unser Psychologieprofessor vor uns rund 200 Studierende, hielt einen 100-Franken-Schein in die Höhe und fragte: „Wer möchte diesen Schein haben?“ Fast alle Hände gingen hoch. Der Professor zerknitterte den Schein. Dann fragte er: „Möchte ihn immer noch einer haben?“ Die Hände gingen wieder hoch. „Was ist, wenn ich das tue?“ Er warf den Hunderter auf den Boden und rieb den Schein mit seinen Schuhen am staubigen Hörsaalboden. Er hob ihn auf, der Hunderter war zerknittert und verdreckt. „Nun, wer will ihn jetzt noch haben?“ Wieder gingen fast alle Arme in die Luft. Dann sagte er: „Meine Damen und Herren, Sie haben soeben eine wertvolle Lektion gelernt. Was auch immer mit dem Schein geschah: Sie wollten ihn haben, weil er nie an Wert verloren hat. Er war und ist immer noch 100 Mark wert. Aber was passiert in unserem Leben? Es wird geschehen, dass wir fallen gelassen oder zu Boden geworfen werden, dass wir geknickt und zerknittert werden, dass wir in den Schmutz gezogen und mit Füssen getreten werden. Und die meisten von uns fühlen sich dann wertlos. Doch egal, was Ihnen passiert ist oder passieren wird, Sie werden niemals an Wert einbüssen. Verschmutzt oder sauber, zerknickt oder gebügelt, Sie sind und bleiben wertvoll.
Meist müssen wir gar nicht – sozusagen von aussen – in Frage gestellt oder abgewertet werden. Vermutlich kennen die meisten Menschen Situationen, in denen sie unsicher werden und ihr Selbstwert ins Wanken gerät.
Begriffe wie ‚Selbstbewusstsein‘, ‚Selbstsicherheit‘ und ‚Selbstwertgefühl‘ drücken aus, dass wir mit einer gewissen Sicherheit auftreten, weil wir darauf vertrauen, dass wir uns angemessen verhalten und dem gerecht werden können, was von uns erwartet wird. Wie gut uns das gelingt, hängt aber auch vom Rahmen ab, in dem wir uns gerade befinden. So kann z.B. ein Handwerker auf der Baustelle völlig selbstsicher sein – wenn er aber vor einer Versammlung eine Rede halten soll, überhaupt nicht. Umgekehrt wird ein begnadeter Redner vermutlich weiche Knie bekommen, wenn er einen Bagger bedienen soll.
Und oft trügt der äussere Eindruck. Wir können nämlich äusserlich scheinbar selbstsicher auftreten und entsprechend wirken, uns aber dennoch völlig unsicher fühlen. Zwischen dem äusseren Auftreten und dem, wie wir uns fühlen, können Welten liegen.
Wohl jeder von uns kennt Situationen, in denen er oder sie sich unsicher und irgendwie ‚minderwertig‘ gefühlt hat. Solche Minderwertigkeitsgefühle sind unangenehm. Deshalb wollen wir ihnen ausweichen, sie ‚überspielen‘ oder ‚los‘ werden. Typische Reaktionen sind dann z.B.:
- Aggressive Reaktion
Man hängt den ‚Starken‘ heraus, wertet vielleicht andere Menschen ab oder versucht mit Macht aufzutrumpfen. Oft stecken unter dieser Reaktion Gefühle der Trauer, Angst oder Wut. Weil man so verletzlich ist, fährt man wie ein Igel die ‚Stacheln‘ aus. - Defensive Reaktion
Andere geben sich alle Mühe und versuchen über Erfolg oder Reichtum wieder Anerkennung und Einfluss zu gewinnen. Eigentlich wäre dies etwas Gutes. Doch dieses Gute wird ‚verzweckt‘ und dient zur Abwehr negativer Gefühle. Deshalb macht auch diese Reaktion nicht so richtig froh. Sie gleicht dem Versuch über einen angebrannten Kuchen Puderzucker zu streuen. Der Kuchen schmeckt dann immer noch nicht gut. - Abhängige Reaktion
Wieder andere bewundern eine mächtige oder angesehene Person, an die sie sich anlehnen oder in deren Schatten sie sich stärker fühlen. Sie schlüpfen gleichsam in eine ‚Ritterrüstung‘. Im ersten Moment beeindruckt das vielleicht Aussenstehende, doch ein Blick in die Rüstung zeigt schnell, dass hinter dieser Fassade viel Unsicherheit steckt – abgesehen davon, dass diese Form der Sicherheit eher in ein Museum als in die heutige Zeit passt und von Bewegungsfreiheit oder Flexibilität keine Rede sein kann. - Depressive Reaktion
Wieder andere verkriechen sich traurig, lassen sich hängen, verfallen in Selbstmitleid oder geben sich selbst auf. In der Folge werden sie noch weniger beachtet – und die depressive Spirale dreht sich weiter. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Vielleicht stellen Sie sich jetzt die Frage: „Und jetzt? Eine solche Analyse mag gut und recht sein, doch geändert hat sich damit noch gar nichts. Kann man den eigenen Selbstwert trainieren?“
Ja, das kann man. Zum einen auf der mentalen Ebene und zum anderen ganz praktisch im Alltag. Wenn Sie es ausprobieren wollen, finden Sie hier Anregungen: Übung «Das Selbstwertgefühl trainieren»