Selbstbestimmt sterben
„Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu geben.“ Alexis Carell
Wenn von ‘selbstbestimmtem Sterben’ oder ‘assistiertem Suizid’ die Rede ist, dann ist die freiwillige Selbsttötung eines Menschen gemeint.
Um Missverständnisse zu vermeiden, zuerst einmal, was damit nicht gemeint ist: Ein ‘solitärer Suizid’, bei dem man aus einem Gefühl der Ausweglosigkeit seinem Leben ein Ende setzt. Oft in einer Art Kurzschlusshandlung, manchmal auch als traurige Bilanz des Lebens. In aller Regel aber als einsame Entscheidung, von der niemand unmittelbar vorher etwas wissen darf. Man geht diesen Schritt und wird dann von anderen gefunden.
Mit selbstbestimmtem Sterben, um das es hier geht, ist gemeint, dass z.B. jemand sein Leben bewusst und überzeugt beenden will, weil er/sie z.B. schwer krank oder hochbetagt ist und ein für sie/ihn würdevolles Weiterleben nicht mehr möglich ist. Im Unterschied zu einem ‘harten’ Suizid besprechen solche Menschen in der Regel diesen Schritt mit ihrem engsten Umfeld – oder informieren dieses zumindest – und nehmen dafür die Hilfe Dritter in Anspruch.
Selbstverständlich muss dabei gewährleistet sein, dass es sich wirklich um eine selbstbestimmte Entscheidung handelt und nicht um eine – vermutete oder tatsächliche – Erwartung bzw ein Druck anderer.
Es ist ein kontroverses Thema. Lange Zeit lehnte ich ein solches Vorgehen ab. Mir schien die Gefahr zu gross, dass Menschen, die nicht (mehr) den gesellschaftlichen Werten von Effizient und Produktivität genügen, unter Druck kommen oder niemandem ‘zur Last fallen’ wollen und ihr Leben selbst beenden.
Als eine schwer und unheilbar kranke Frau aus unserem Freundeskreis diesen Weg wählte, war dies der Auslöser, mich vertiefter mit dem selbstbestimmten Sterben auseinanderzusetzen. Ausserdem habe ich inzwischen ein paar hochbetagte Menschen kennengelernt, die zufrieden und doch irgendwie ‘lebens-satt’ auf ihr Leben zurückblicken und unter verschiedenen altersbedingten Einschränkungen leiden. Von ihnen habe ich immer wieder den Wunsch gehört, bald sterben zu dürfen.
Allmählich kam ich zur Überzeugung, dass – wenn dabei bestimmte Bedingungen eingehalten werden – ein selbstbestimmtes Sterben ein guter und würdevoller Weg sein kann, das eigene Leben zu beenden. Ein Tier in einer vergleichbaren Situation würde man auch erlösen.
In einem Vortrag von Heinz Rüegger (er ist Theologe, Ethiker und Gerontologe) wurde das Thema nochmals in einen grösseren Kontext gestellt. Im Weiteren beziehe ich mich auf diesen Vortrag und Unterlagen der Sterbehilfeorganisation Exit.
Vom selbstbestimmten Sterben zu unterscheiden sind:
- Aktive Sterbehilfe: Fremdtötung aus Mitleid auf inständigen Wunsch der sterbewilligen Person. Dies ist in der Schweiz verboten
- Passive Sterbehilfe: Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, um dem Sterbeprozess seinen Lauf zu lassen
- Solitärer Suizid: Jemand tötet sich selbst z.B. mit Gift, einer Schusswaffe, …
In der Schweiz ist der assistierte Suizid legal, sofern die Freitodhilfe nicht aus selbstsüchtigen Gründen erfolgt. 2006 entschied der Bundesgerichtshof, dass zum Selbstbestimmungsrecht einer Person auch das Recht gehört, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden.
Damit die Sterbehilfeorganisation Exit eine Person auf dem Weg in den Tod begleitet prüft die/der Freitodbegleiter*in ob die sterbewillige Person alle folgenden Bedingungen erfüllt:
- Die sterbewillige Person ist urteilsfähig, d.h. sie versteht, was sie tut
- Sie handelt nicht aus dem Affekt und hat sämtliche Alternativen zum Freitod erwogen
- Sie hegt einen dauerhaften Sterbewunsch
- Sie wird nicht von Dritten beeinflusst und
- sie führt den Suizid eigenhändig aus.
Assistierte Suizide sind weitgehend Alterssuizide. 2021 haben in der Schweiz 1391 so ihr Leben beendet. Das entspricht 2% aller Todesfälle; 87% der assistierten Suizide waren über und 13% unter 65 Jahre alt.
Im Unterschied dazu waren bei den 1005 solitären Suiziden 66% unter 65 Jahr alt.
Aus ethischer Sicht stellen sich für diese beiden Suizidformen unterschiedliche Aufgaben. Bei affekthaften, solitären Suiziden aus Verzweiflung geht es um Prävention (Fürsorge-Prinzip), beim wohlüberlegten Bilanz-Suizid geht es um Assistenz (Autonomie-Prinzip).
Heinz Rüegger weist auf das weit verbreitete Missverständnis hin, dass es zwei Arten des Sterbens gebe:
Das natürliche Sterben: es ist durch die Natur, Schicksal oder Gott als Herr über Leben und Tod bestimmt. Der Mensch muss sich fügen.
Das selbstbestimmte Sterben: Suizid, bei dem der Mensch selbst bestimmen kann und seinen Tod herbeiführt.
Tatsache sei, dass durch das grosse Arsenal an lebensverlängernden Massnahmen der modernen Medizin das selbstbestimmte Sterben längst zum neuen Paradigma des Sterbens geworden ist. Auch bei schweren Krankheiten gebe es verschiedene Handlungsoptionen, die Entscheidungen fordern: Wie lange soll man den Tod noch bekämpfen bzw. wann auf lebensverlängernde Massnahmen verzichten? Wann soll von kurativ auf palliativ umgestellt werden?
Damit wird Sterben nicht mehr zu einem von aussen verfügtes Schicksal, dem man sich ergeben muss, sondern – weit über die Zahl von assistierten Suiziden hinaus – zu einem selbstbestimmten ‘Machsal’, das eine Entscheidung erfordert. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass in der Schweiz bei 58% – 75% der medizinisch begleiteten Sterbefälle Personen nach der Entscheidung (meist sind es mehrere Entscheidungen) sterben, den Tod zuzulassen. Sterben geschieht bereits heute also mehrheitlich menschlich gesteuert nach dem Willen der sterbenden Person.
Damit ist die ethische Frage nicht, ob diese Entwicklung gut und wünschbar ist, sondern wie wir mit ihr verantwortlich und lebensdienlich umgehen, damit sie nicht als Überforderung erfahren wird.
Selbstbestimmtes Sterben kann damit verschiedene Formen annehmen:
- Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen (passive Sterbehilfe)
- Medikamentöse Symptomlinderung oder Sedierung mit dem Risiko eines vorzeitigen Todes (indirekt-aktive Sterbehilfe)
- Gezielter Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (Sterbefasten)
- Assistierter Suizid
- Solitärer Suizid
Damit ist ein assistierter Suizid nicht mehr die ganz andere Form des Sterbens, sondern eine unter mehreren Formen des heute zum Normalfall gewordenen Paradigmas des selbstbestimmten Sterbens.
Religiöse Perspektive
Darf ein Mensch sein Leben eigenmächtig auslöschen oder bestimmt Gott, der ‘Herr über Leben und Tod’, wann der Zeitpunkt des Sterbens gekommen ist?
Überlegungen dazu:
- Wir entscheiden schon seit langem über Anfang (Verhütung), Dauer (Prävention / Therapie) und Ende des Lebens (lebenserhaltende Massnahmen).
- Es gibt religiös ein Recht auf Leben, aber keine Pflicht zu leben.
- Niemand soll sich dafür ethisch rechtfertigen müssen, dass er/sie noch weiterleben will oder aber nicht mehr weiterleben will.