Plädoyer für eine ‘säkulare Spiritualität’

Heute ist oft die Rede von Spiritualität. Meist wird darunter das persönliche Bemühen um inneres Wachstum, um einen tieferen Sinn im Leben und das Streben nach innerem Frieden verstanden. Auch wenn diese Überzeugungen und/oder die Praxis nicht an eine der traditionellen Glaubensgemeinschaften gebunden sind, wird Spiritualität fast immer in einem religiösen Kontext verstanden: die Suche nach einer Verbindung zu etwas Grösserem, als man selbst ist, sei es Gott, das Universum oder eine höhere Macht.

Mein Verständnis von Spiritualität
Der Begriff Spiritualität leitet sich vom lateinischen ‘spiritus’ (‘Geist’) ab und macht deutlich, dass es nicht nur um eine logisch-rationale Weltanschauung geht. Spiritualität ist etwas, das ‘begeistert’ und eine emotionale Qualität hat. Sie hat sehr viel mit dem zu tun, was jemand für sein Leben als sinn-voll erachtet, was ihn bewegt und Energie freisetzt. Oder etwas pathetisch ausgedrückt: als etwas, für das es sich lohnt 80 Jahre alt zu werden.

Warum wird Spiritualität zu einem aktuellen Thema?
Es ist noch gar nicht so lange her, da war die ‚Kirche noch im Dorf‘, da wussten alle noch, was ‚man‘ macht – oder doch besser sein lässt. Wer diese meist ungeschriebenen Spielregeln nicht einhielt, wurde schnell zum Aussenseiter. Die Sozialkontrolle engte zwar ein, gab aber auch Halt und markierte Grenzen. Nicht zuletzt sagte auch die Religion, was man darf oder was verboten ist. Auch wenn sich nicht alle an diese Regeln hielten, war es doch klar, was gilt, was eigentlich richtig oder falsch ist.

Inzwischen sind viele dieser Regeln nicht mehr selbstverständlich. Diese Entwicklung schenkt dem Individuum eine bisher nicht gekannte Freiheit. Mit ihr fielen aber auch viele ‚Grenzpfähle‘ weg und der Staat muss jetzt (z.B. in einem Litteringgesetz oder Hooligangesetz) regeln, was früher zumindest im Prinzip klar war. Der normierende Einfluss der Religion befindet sich im rasanten Sinkflug und mit den Migrationsströmen entstand ein buntes Nebeneinander unterschiedlichster Kulturen und Wertvorstellungen.

Die / der Einzelne kann – und muss jetzt aber auch – entscheiden, welche Normen für ihn verbindlich sein sollen. Bildlich ausgedrückt: Früher war das (Zusammen-)Leben wie baden in einem Swimmingpool. Das Erlebnis und die Aussicht waren nicht gerade berauschend, doch es gab klare Begrenzungen. Wer nicht so gut ‘schwimmen’ konnte, der badete im sicheren Nichtschwimmerbereich und alle konnte sich jederzeit an einer ‘Stange’ (den durch die Sozialkontrolle vorgegebenen ‘Spielregeln’) halten.  

Im Vergleich dazu ‘baden’ wir (besonders in den sog. westlichen Gesellschaften) heute alle im ‘Meer’. Wie weit wir uns in dieses ‘Meer’ hinauswagen, kann Jede*r selbst entscheiden. In unserer persönlichen Lebensgestaltung haben wir eine Freiheit und Auswahl, die sich noch die Generation unserer Eltern gar nicht vorstellen konnte. Ich denke z.B. an unser Mobilitäts- und Freizeit- und Konsumverhalten; Freiheit der sexuellen Orientierung; aus welchen Quellen wir uns informieren und welchen wir vertrauen; die neuen Möglichkeiten durch das Internet und KI; unser Umgang mit Social Media; gibt es nur 2 oder doch mehr Geschlechter? … Zugleich wissen wir, dass wir heute schon doppelt so viele natürliche Ressourcen unseres Planeten nutzen als er zur Verfügung stellt und in Zukunft die Menschen in anderen Regionen der Erde dies Annehmlichkeiten auch nutzen wollen.

Angesichts dieser Fülle an Möglichkeiten bleibt uns gar nichts anderes übrig als ständig zu wählen und zu entscheiden, wie wir unser Leben konkret gestalten wollen. Das kann auch überfordern. Manche wünschen sich die ‘gute alte Zeit’ zurück, in der es noch klarer war, was richtig oder falsch ist. Einigen kann diese Freiheit so grosse Angst machen, dass sie sich wie Schiffbrüchige an einen Rest aus der Vergangenheit klammen und doch spüren sie, dass diese Reste nicht auf Dauer tragen werden.

Solange wir uns an die Gesetze halten, gibt es heute kaum mehr ‘Spielregeln’, die für alle gelten und eingehalten werden müssen. Deshalb muss sich Jede*r selbst – reflektiert und bewusst oder implizit – Regeln oder Leitlinien geben, an denen sie / er sich orientiert: Was für ein Mensch möchte ich sein? Was ist mir wichtig? Von welchen Überzeugungen lasse ich mich leiten? Für was / wie viel Verantwortung kann bzw. will ich übernehmen? Welchen Werten will ich nachleben? … Da kommt die persönliche Spiritualität ins Spiel.

Wer für sich solche Fragen geklärt und zu einer persönlichen Spiritualität gefunden hat, der hat Orientierungspunkte und ein ‘Spielfeld’, die nicht von aussen kommen, sondern die er selbst gewählt hat. Sie erleichtern ihm die konkrete Lebensgestaltung.
Früher, als es noch kein Navi gab, konnte man mit einem Kompass die Richtung bestimmen. Damit man sich auf die Richtungsangabe verlassen konnte, musste man den Kompass ab und zu justieren. Ganz ähnlich ist es mit der Spiritualität: man muss sich ab und zu Zeit nehmen, schauen, wo man im Leben steht, welche Werte einem wichtig sind und in welche Richtung man sich entwickeln will. Je mehr Erfahrung man damit hat, desto eher wird die Spiritualität zum persönlichen ‘Navi’, das ‘meldet’, ob die Richtung der persönlichen Lebensorientierung noch stimmt.

Elemente einer ‘säkularen Spiritualität’
In meinem Verständnis muss Spiritualität nichts mit Gott, einer sonstigen höheren Macht oder dem Universum zu tun haben. Sie kann sehr wohl ganz säkular sein. Denn für ein sinn-volles Leben, das einen sowohl innerlich wachsen und reifen lässt als auch zufrieden und irgendwie glücklich macht, braucht es keine religiöse oder sonstige ‘allumfassende’ Begründung. Es genügt, wenn wir uns dabei an den ethischen Prinzipien orientieren:

  • auf der individuellen Ebene: Entfaltung des eigenen Lebens
  • auf der sozialen Ebene: Wohlergehen aller Menschen
  • und der zukunftsorientieren Ebene: im Einklang mit der Natur

Im Unterschied zur persönlichen Weltanschauung zeigt sich die Spiritualität in der konkreten Lebensgestaltung, im alltäglichen Verhalten. Denn Spiritualität ist gelebte Überzeugung.

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