Ein Adler im Hühnerhof
Ein junger Adler, der sich noch ein wenig ungeschickt anstellte, verfing sich bei einem seiner ersten Flüge in einer Hecke. Ein Bauer fand den Vogel, nahm ihn mit heim und steckte ihn in den Hühnerhof zu seinen Hennen. Und es geschah etwas ganz seltsames: mit der Zeit benahm sich der Adler wie ein Huhn. Wie die Hühner ging er über den Hof und pickte Körner.
Nach einigen Monaten – der Adler war inzwischen schon ein grosser Vogel geworden – bekam der Bauer von einem Biologen Besuch. Der Bauer meinte, dass der Adler zu einem etwas speziellen Huhn geworden sei. Der Biologe war überzeugt, dass der Adler sich vielleicht, wie ein Huhn verhalte, aber nach wie vor das Herz eines Adlers habe und ein Adler geblieben sei. Natürlich wollte er den Adler sehen.
Die beiden gingen hinaus auf den Hof. Der Biologe nahm den Adler und hob ihn in die Höhe. Der Adler blickte um sich, sah die Hühner Körner picken und hüpfte zu ihnen hinunter. – Der Bauer lachte und meinte: ‚Ich hab’s dir doch gesagt: Er ist ein Huhn‘.
Doch der Freund gab nicht so schnell auf. Er stieg mit dem Adler zur obersten Luke des Heustadels hinauf. Dort hob er ihn wieder in die Höhe und liess ihn in die Weite der Landschaft blicken. – Tatsächlich breitete der Adler seine Flügel aus und flog eine Runde. Aber als er wieder die Hühner im Hof erblickte, flog er zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen.
Der Freund des Bauern liess sich nicht entmutigen. Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, stieg er mit dem Adler auf einen kleinen Berg. Auf dem Gipfel setzte er ihn auf die ausgestreckte Hand und liess ihn wieder ringsum die Landschaft sehen. Der Adler machte ein paar leichte Flügelschläge, flog aber nicht.
In diesem Augenblick ging die Sonne auf. Der Mann drehte sich ein wenig und liess den Adler in die Sonne blicken. – Da ging ein Zittern durch den Körper des Adlers als erfüllte ihn neues Leben. Er breitete die gewaltigen Flügel aus und flog mit ruhigen, kräftigen Schlägen davon und kehrte nie mehr zum Hühnerhof zurück.
Unbekannte Quelle
Zugegeben, das ist eine unwahrscheinliche Geschichte. Zu schön, um wahr zu sein? – Und doch enthält sie ein paar Tatsachen, die wir immer wieder – vielleicht auch bei uns selbst – beobachten können.
Gar nicht so selten wollen wir ’nur nicht auffallen‘ und passen uns über die Massen den Menschen um uns herum an. Manchmal verbleiben wir auch dann noch in einer Umgebung, wenn längst klar ist, dass sie uns nicht entspricht oder nicht (mehr) guttut.
Vielleicht merken wir in einer solchen Situation, dass wir etwas ändern sollten, aber wir schaffen es einfach nicht. Denn meistens gibt es ja auch kleine Vorteile und Gründe, alles beim Alten zu lassen, zumal es nicht sicher ist, dass es uns dann in der neuen Situation besser geht. Dann braucht es oft Menschen, die an uns glauben und die uns Mut machen, den verborgenen Fähigkeiten in uns zu trauen. Solche Menschen sind wie ein Geschenk.
Gut verzichten können wir dann aber auf ‚Freunde‘, die meinen besser zu wissen, was für uns gut wäre und uns mit Ratschlägen überhäufen. Da bestätigt sich der Spruch: Ratschläge sind auch Schläge.
Häufig klappt die Veränderung nicht auf Anhieb. Es braucht mehrere Anläufe. Dann können wir es wie kleine Kinder machen, die gerade das Laufen lernen. Wenn sie nach wenigen Schritten auf den Hintern oder die Nase fallen, stehen sie wieder auf und versuchen es nochmals.
Die Rolle des Freundes
Auch geübte ‚Adler’ haben blinde Flecken. Deshalb ist es manchmal gut, einen Freund/ eine Freundin an der Seite zu haben.
- Als aussenstehende und wertschätzende Person kann eine Freundin / ein Freund mit einem ehrlichen Feedback zu Ihren Stärken und Schwächen unterstützen.
- Er/sie kann neue Ideen und vielleicht ungewohnte Sichtweisen ins Gespräch bringen. Sie ‘schmoren dann nicht im eigenen Saft’ und es ist für Sie leichter Neues zu denken und mögliche Schritte in diese Richtung mit ihm zu diskutieren.
- Schliesslich kann sie/er Ihre ersten Umsetzungsschritte begleiten und Ihnen helfen, einen neuen ‚Anlauf’ zu nehmen, wenn Sie wieder auf dem Hühnerhof gelandet sind.
Kurz: Eine Freundin oder ein Freund kann Ihnen helfen, den ‚Adler’ in sich zu entdecken. Fliegen tun Sie dann selbst.
Wenn Sie gerne mal dem ‘Huhn’ oder ‘Adler’ in Ihrem Leben nachgehen wollen, gibt Ihnen die Übung ‚Adler oder Huhn? – Blick auf Ihr Leben‘ dazu Anregungen.