Unter Aufsicht Gottes? – oder: Regeln, die das Leben fördern

So ähnlich, wie diesem Menschen mag es so Manchem ergehen, wenn von den 10 Geboten die Rede ist: Gebote, die scheinbar direkt von Gott kommen und peinliche genau eingehalten werden müssen. Einfach weil Gott das so will. Wer sich nicht an diese Gesetze hält, der ‚sündigt‘ und muss dafür büssen – durchaus vergleichbar einem Autofahrer, der zu schnell fährt und das ‚Pech‘ hat, von einem Radargerät geblitzt zu werden. Nur noch schlimmer: denn Gott sieht alles – wie in einem totalen Überwachungsstaat.  

Doch wenn wir mal genauer schauen, um was es in diesen Geboten geht, wird schnell deutlich, dass die 10 Gebote so etwas wie ‚Spielregeln‘ sind, die der Entfaltung der eigenen Lebensmöglichkeiten und dem gedeihlichen Zusammenleben in einer Gemeinschaft dienen. Diese Regeln sind sinnvoll, nicht weil Gott das so will, sondern weil sie für uns selbst und das gemeinschaftliche Leben förderlich sind. Wer sich nicht daran hält, schadet sich selbst und beschneidet die Entfaltung seiner Lebensmöglichkeiten. ‚Sündigen‘ ist nicht die Übertretung eines Gesetzes, das irgendeine externe Instanz – in diesem Fall Gott – erlassen hat, sondern die Schädigung von Lebensmöglichkeiten – seien es nun die eigenen oder die berechtigten Möglichkeiten anderer. Wer diese Spielregeln verletzt schneidet sich sozusagen ‚ins eigene Fleisch‘. Die 10 Geboten thematisieren Grundfragen unseres Lebens und der Gemeinschaft:

  1. ‚Keine fremden Götter‘
    Der Theologe Paul Tillich umschreibt ‚Gott‘ mit „das, was uns unbedingt angeht“. Was ist unser ‚Gott‘, unser oberster Wert? Was ist uns am wichtigsten? Welchem Wert ordnen wir alles andere unter? Jede Zeit hat ihre eigenen ‚Götter‘ und obersten Werte. Aktuell könnten das sein: Erfolg? Macht? Geld? Schönheit? Karriere? Wirtschaftswachstum, irgendeine fixe Idee oder eine Form von Fanatismus? …
  2. ‚Namen Gottes nicht missbrauchen‘
    Wie gehen wir mit unseren eigenen Werten und den Überzeugungen anderer Menschen um? Wie gut tragen wir zu ihnen Sorge? Wo hört unsere Toleranz auf? Was können wir nicht mehr tolerieren – und warum?

    Wie denken und reden wir über andere, eine Sache oder Werte? Konstruktiv, kritisch-aufbauend, fördernd, respektvoll? Oder geht es darum eine Person oder Sache ‚madig‘ zu machen; jemanden ‚durch den Dreck zu ziehen‘ oder sich auf Kosten anderer lustig zu machen? Welche politische ‚Kultur‘ pflegen wir? Mobbing? Hate-Speech?
  3. ‚Den Sabbat heiligen‘
    Welchen Stellenwert nimmt die Arbeit ein? Wie ernst nehmen wir das eigene Erholungsbedürfnis und das von anderen? Burnout, 24-Stunden-Gesellschaft, Freizeitstress, Arbeitszeitmodelle, … lassen grüssen.
  4. ‚Vater und Mutter ehren‘
    Wie verhalten wir uns gegenüber unseren ‚Wurzeln‘, unserer Vergangenheit und Herkunft?
    Wie stehen wir zu unseren Eltern (auch wenn sie vielleicht nicht gerade ‚ideale‘ Eltern waren), zur eigenen Herkunft? Wie gehen wir mit dem um, was Generationen vor uns erarbeitet und geleistet haben und auf dem wir aufbauen können? Gab es in der Familie / dem Land, in dem ich aufgewachsen bin, dunkle Kapitel – und wie stehe ich dazu?

    Interessanterweise ist dieses Gebot das einzige, das mit einer Zielsetzung verbunden ist: ‚damit du lange lebst‘. Die moderne Psychologie hat festgestellt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen unserer Lebenszufriedenheit und der Art, wie wir mit unserer Herkunft und Vergangenheit umgehen.
  5. ‚Nicht morden‘
    Achtung von allem Lebendigen und der unbelebten Natur
    Gleichheit und Würde aller Menschen unabhängig von Rasse, Kultur, Religion, Geschlecht und Alter; respektvoller Umgang mit der Tier- und Pflanzenwelt; nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen. Wie gross ist unser ökologischer Fussabdruck? Sicherung der Lebensgrundlagen durch faire Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbeziehungen.
  6. ‚Ehe nicht brechen‘
    Pflege der menschlichen Beziehungen
    Klarheit, Ehrlichkeit und Gegenseitigkeit in Beziehungen; geklärte Verbindlichkeit von Beziehungen; Zumutbarkeit von Vertrauensverletzungen (z.B. gegenüber den eigenen Kindern)
  7. ‚Nicht stehlen‘
    Respekt vor dem (materiellen und geistigen) Eigentum anderer
    Diebstahl, Vandalismus, Steuerhinterziehung, Umgang mit Steuergeldern, …
  8. ‚Nicht lügen‘
    Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Fake-News
    Wenn wir uns auf das, was jemand sagt oder verspricht nicht verlassen können, wird das Zusammenleben schwierig.

Das 9. (Frau des Nächsten nicht begehren) und 10. Gebot (Haus und Güter des Nächsten nicht begehren) sind Zuspitzungen des 6. bzw. 7. Gebots.

Es bedarf keiner grossen Erklärungen, dass die Missachtung dieser Spielregeln die eigenen Lebensmöglichkeiten einschränkt oder dem Zusammenleben in einer Gemeinschaft schadet. Es geht nicht um die Verletzung einer göttlichen oder sonstigen ‚externen‘ Ordnung, sondern um unser eigenes Leben und um die Gemeinschaft.

Übrigens sind diese Gebote nicht spezifisch für die alttestamentlichen Juden (bzw. später das Christentum). In ähnlicher Form werden sie von allen Religionen gelehrt und haben zahlreiche Vorgänger. So finden sich z.B. die meisten dieser Gebote inhaltlich bereits im Codex des babylonischen Königs Hammurabi aus dem 18. Jht. v.Chr.

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