Vom Vorteil, schwerhörig zu sein
“Es waren einmal zwei Hasen. Während sie durch den Wald hüpften, merkten sie gar nicht, dass dort ein tiefes Loch gebuddelt worden war. So fielen sie geradewegs in die Grube. Das Loch war so tief, dass es fast nicht möglich war, wieder aus eigener Kraft herauszuspringen.
Inzwischen waren andere Hasen dazugekommen und riefen von oben: „Wie schrecklich! Das schafft ihr nie! Das hat keinen Sinn! Ihr Armen!“
Der eine Hase war schnell entmutigt. Er sah tatsächlich keine Chance und legte sich nieder, um zu sterben.
Der andere Hase hingegen sprang und sprang. Er gab nicht auf. Was immer auch die anderen oben riefen, er versuchte es weiter. Und tatsächlich wurden seine Sprünge höher und höher. Und dann schaffte er es mit einer letzten, gewaltigen Kraftanstrengung, aus dem Loch zu springen.
„Wie hast du das gemacht?“ fragten die anderen. „Hast du uns nicht gehört, wir haben dir zugerufen, dass das unmöglich ist.“
Da zeigte es sich, dass der Hase schwerhörig war und gedacht hatte, die anderen feuerten ihn an.” (Konnert Tanja, Kleine Wunder warten überall)
Diese kleine Geschichte drückt so anschaulich aus, dass es Situationen gibt, in denen wir auf die Unterstützung anderer angewiesen sind – und dass Mitleid (im Unterschied zum Mitgefühl) oft schadet.
Mitleid sagt dem anderen: “Du bist ein armer Schlucker, vom Schicksal schwer geschlagen. Da kann man wohl nichts machen und du musst dich damit wohl abfinden”. Solches Mitleid zieht nach unten, macht den anderen klein und hilflos. Man kann nur noch passiv abwarten. Man bedauert den anderen. Beim Mitleid hüpft man gleichsam geistig selbst in das tiefe Loch und jammert gemeinsam. Am Schluss leiden beide.
Ganz anders das Mitgefühl. Die äussere Situation ist gleich; an ihr ändert sich nichts. Man fühlt mit dem anderen, hüpft jedoch nicht selbst ins Loch. Vielleicht macht einen die Situation selbst sprachlos – aber man bleibt an der Seite des anderen und fühlt mit. Man stärkt dem anderen den Rücken, indem man schaut, was dem anderen im Moment am besten hilft. Ich habe oft erlebt, dass Menschen in fast ausweglosen Situationen ihre Lage sehr realistisch einschätzen und fast dankbar sind, wenn der Ernst der Situation nicht durch ‘billigen’ Trost und oberflächliche Hoffnungswünsche, an die man selbst nicht glaubt, kleingeredet wird. Manchmal hilft dann ein einfühlsamer Händedruck, ein gemeinsamer Moment der Stille oder gemeinsame Tränen mehr als viele Worte.
Manchmal berichten Medien über Menschen, die z.B. nach einem Unfall behindert oder auf einen Rollstuhl angewiesen sind und doch ihr Leben (trotz der dunklen Momente, die es gibt) als sinnvoll empfinden. Auch ich durfte einigen Menschen in ausweglosen Situationen begegnen – meist waren es unheilbare und tödlich verlaufende Krankheiten oder sehr schwere Behinderungen – die mich beeindruckt haben, wie sie mit ihrem Schicksal umgehen. Offenbar gibt es kaum Schicksalsschläge, die ein Aufstehen und Weitergehen unmöglich machen. Die Situation selbst ist manchmal nur schwer auszuhalten und nicht zu verändern, aber die Einstellung zur Situation, die können wir ändern. Der Sinn des Lebens hängt nicht von äusseren Gegebenheiten ab.
Manchmal fühle ich mich nach der Begegnung mit einer Person, die ihre überaus schwierige Situation auf geradezu vorbildliche Weise meistert, sogar irgendwie beschenkt und gestärkt.